An(ge)dacht

bekanntes den Augen entziehen

Liebe Gemeindemitglieder und Gäste!

Ein imposantes Tuch (7 x 4 m) hängt zurzeit in unserer Propsteikirche St. Clemens. Dieses 2016 von der Textilkünstlerin Constanze Rilke fertig gestellte Fastentuch ist eine Leihgabe der evangelischen Gartengemeinde St. Marien in Hannover. Bei ihnen ist zurzeit eine Kopie unseres Telgter Hungertuches zu sehen, das in diesem Jahr 400 Jahre alt wird.

In der Regel verhüllen diese riesigen Tücher während der Fastenzeit die imposanten Altäre mit ihren bildlichen Darstellungen und Kreuzen und ermöglichen damit so etwas wie ein ‚Fasten für die Augen‘. Sie entstanden wohl nach dem Vorbild des Tempelvorhanges in Jerusalem, der beim Tod Jesu „von oben bis unten entzwei riss“ und damit den Blick auf das Göttliche endgültig freigab, wie die Leidensgeschichten der Evangelien eindrücklich berichten. Mit der Zeit wurden die Fastentücher aber selbst zur Darstellungsfläche vor allem für Szenen aus der Bibel, speziell aus dem Leben und dem Leidensweg Jesu.

Außer dem Verhüllen mit großen Fastentüchern kennen wir Christen ebenfalls das Verhüllen der Kreuze vom Passionssonntag bis zum Ende der Karfreitagsliturgie und das grundsätzliche Verhüllen der Kelche. Bei diesem Verhüllen und Zeigen geht es wohl darum, die geheimnisvolle Begegnung mit dem Göttlichen darzustellen, das sich einerseits dem Zugriff des Menschen entzieht und sich andererseits dem Menschen offenbart. Es geht darum, in diesem Sinne unser Sehen und Wahrnehmen zu schärfen, neugierig zu werden und in einen Dialog mit dem Göttlichen einzutreten.

Mit dem Künstlerehepaar Christo und Jeanne-Claude, das 1995 in einer spektakulären Aktion das Berliner Reichstagsgebäude verhüllte, wurde diese bis dahin mehr religiös geprägte Praxis auch in die Alltagswelt übertragen. Auch hier ging es darum, etwas Bekanntes den Augen zu entziehen und damit ein neues Suchen und Entdecken zu provozieren.

Ich lade Sie ein, das moderne Hungertuch in St. Clemens in aller Ruhe zu betrachten. Die Blumenblüten und Tiergestalten möchten die Assoziation des Paradiesgartens hervorrufen und so in uns die Sehnsucht nach einem umfassenden Frieden wach halten oder neu wecken.

Eine sehenswerte Weiterentwicklung alter Traditionen,

meint Propst Michael Langenfeld

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