An(ge)dacht
Erwartungen

Gerade noch sehnlichst erwartet, herzlich begrüßt und mit warmen Worten und großen Gesten begeistert empfangen, schon kurz darauf runtergemacht, abgelehnt und ausgegrenzt. Aus herzlichem Willkommen wird unbarmherzige Ablehnung, aus Begeisterung wird üble Nachrede, aus Liebe wird Hass.
Das haben viele Geflüchtete erfahren müssen, das erleben Politiker, Manager und Spitzensportler, das empfinden leider auch Freunde, (Ehe)paare und Kinder. Nicht wenige von uns dürften das in irgendeiner Weise auch schon erlebt haben.
Jetzt am Palmsonntag hören wir diese Geschichte vom völligen Kippen der Gefühle, vom Umschwung der Atmosphäre auch in der Bibel: Erst rufen sie Jesus begeistert Hosianna zu, kurz darauf brüllen sie: Kreuzige ihn!
Es ist meiner Ansicht nach die altbekannte Geschichte falscher Erwartungen, die wir immer wieder in uns aufbauen, und der ernüchternden Wirklichkeit, mit der wir uns irgendwann konfrontiert sehen. Es ist die Geschichte der Ent-Täuschung über andere und der Erkenntnis, was der oder die andere wirklich denkt, fühlt, ist und möchte. Kaum etwas facht Wut und Hass mehr an als enttäuschte Erwartungen.
Von Jesus meinen sie, dass er ihr König ist, der sie von der Besatzung der Römer befreit, und müssen dann enttäuscht feststellen, dass sein Königreich gar nicht von dieser Welt ist …
Vielleicht kann uns der Palmsonntag dabei helfen, keine falschen oder gar unerfüllbaren Erwartungen in andere Menschen zu setzen oder von Gott die Erfüllung allzu irdischer Sehnsüchte zu erwarten. Und wenn wir schmerzlich enttäuscht sind, es uns selbst anzurechnen und nicht dem oder der, auf die wir unsere eigenen Erwartungen und Sehnsüchte projiziert haben.
Eine gute Einübung in die Realität des Lebens und in die Achtung vor dem Selbstsein des oder der Anderen. Mein Vorschlag für die Kar- bzw. Passionswoche.
Propst Michael Langenfeld