An(ge)dacht

Heilige Unordnung

Ständig muss ich aufräumen: mein Wohnzimmer, meinen Schreibtisch, mein E-Mail-Postfach... Und kaum ist alles an seinem Platz, beginnt es wieder: das langsame, unausweichliche Chaos breitet sich aus. Dinge wandern, stapeln sich, verschwinden. Ordnung zerfällt. Immer. Die Physik hat dafür ein Wort: Entropie. Sie beschreibt das Maß an Unordnung in einem System – und diese Unordnung nimmt immer zu. Das ist kein Fehler, sondern ein Naturgesetz. Ordnung braucht Energie, Chaos entsteht von ganz alleine. Und deswegen strebt alles zur Unordnung.

Ich frage mich: Gilt das nicht auch für unser Leben? Für unsere Beziehungen, unsere Kirche, unseren Glauben? Wir geben uns Mühe, alles schön zu ordnen – und trotzdem bleibt manches chaotisch. Unübersichtlich. Unfertig. Das gilt besonders für den Glauben: Nicht jede Frage hat eine Antwort. Nicht jeder Lebens- oder Glaubensweg ist gerade. Und auch in unserer Gemeinde geht manches durcheinander. Die Bibel beginnt mit einer Welt, die „wüst und wirr“ ist – ein Bild maximaler Entropie. Und mit der Schöpfung beginnt Gott das Chaos zu ordnen – oder nicht? Zunächst schafft er Licht. Raum. Leben. Und lässt es wachsen – wild, frei, unberechenbar. Und dieses chaotisch lebendige Wachsen dauert bis heute an.

Vielleicht ist Entropie nicht der Feind der Schöpfung, sondern ihr Spielraum. Vielleicht ist Unordnung, Durcheinander, Chaos der Ort, an dem Gott gerade etwas Neues schafft.

Immer wieder passiert es mir beim Aufräumen, dass mir Dinge in die Hände fallen, die mich auf andere Gedanken oder neue Ideen bringen. Und da kommt dann oft etwas Gutes bei heraus. In einer Welt, in der alles in Ordnung ist, da gibt es auch keinen Spielraum für das Leben.

So sehr wir uns bisweilen nach Ordnung sehnen, so sehr wohnt auch dem Chaos etwas Heiliges inne. Insofern wünsche ich Ihnen, dass bei Ihnen nicht immer alles in Ordnung ist – sondern dass Sie in der heiligen Unordnung die Schöpferkraft Gottes erleben können.

Richard Schu-Schätter, Pilgerseelsorger in Telgte

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