An(ge)dacht

Was hat „Dornröschen“ mit der „Tochter des Jaïros“ zu tun

In meiner Tätigkeit als Krankenhausseelsorgerin, wie auch in der Arbeit als Ehe-, Familien- und Lebensberaterin bin ich oft auf der Suche nach Gedanken, nach Geschichten, nach Märchen und Lebensweisheiten die helfen das „Gute“, das „Positive“ im Menschen zu wecken und zu fördern.

Vor einiger Zeit hatte ich eine junge Frau begleitet, die sich an einem eher leidvollen und schweren Zeitpunkt in ihrem Leben befand.

Im Gespräch hatte sie immer wieder bekundet wie verzweifelt und ausweglos ihr Leben schien. Sie konnte keine guten Perspektiven mehr erkennen, fand sich eher eingeengt, fast gezwungen in einer „Haut zu stecken“, die sie nicht wollte. Sie war oft kurz davor alles hinzuschmeißen…

Bei der Lektüre und Suche nach Schönen und Guten Worten für diese junge Frau und für Andere in ähnlichen Lebenssituationen, viel mir von der christlichen Autorin Andrea Schwarz folgende Bibelgeschichte und das Märchen von Dornröschen in die Hände:

In jener Zeit kam ein Synagogenvorsteher namens Jaïrus zu Jesus. Als er ihn sah, fiel er ihm zu Füßen und flehte ihn um Hilfe an; er sagte: Meine Tochter liegt im Sterben. Komm und leg ihr die Hände auf, damit sie wieder gesund wird und am Leben bleibt… Sie gingen zum Haus des Synagogenvorstehers. Als Jesus den Lärm bemerkte und hörte, wie die Leute laut weinten und jammerten, trat er ein und sagte zu ihnen: warum schreit und weint ihr? Das Kind ist nicht gestorben, es schläft nur. Da lachten sie ihn aus. Er aber schickte alle hinaus und nahm außer seinen Begleitern nur die Eltern mit in den Raum, in dem das Kind lag. Er fasste das Kind an der Hand und sagte zu ihm: Talita kum!, das heißt übersetzt: Mädchen, ich sage dir, steh auf! Sofort stand das Mädchen auf und ging umher. Es war zwölf Jahre alt. Die Leute gerieten außer sich vor Entsetzen. Doch er schärfte ihnen ein, niemand dürfte etwas davon erfahren; dann sagte er, man solle dem Mädchen etwas zu essen geben.                                                                           (Aus Markus 5)

«Ich bin die Tochter des Jaïrus. Ich habe keinen eigenen Namen, ich bin ein Nichts, ein Niemand, nur die Tochter des …

So aber kann ich nicht Mensch sein, kann nicht Frau werden. So kann ich nicht wachsen, mich entwickeln, meinen Weg gehen.

Solange mein Vater mich festhält, bin ich nur Tochter – und kann nicht zur Frau werden. Die Liebe meines Vaters hält mich, bindet mich, fesselt mich.

Viele Kämpfe habe ich gekämpft – und ich habe verloren. Jetzt gebe ich auf. Wenn ich nicht Frau werden darf, will ich auch keine Tochter mehr sein. Meine Lebenskraft versiegt, zieht sich nach innen zurück. Und ich sterbe jeden Tag ein wenig mehr – weil ich nicht leben darf.

Aber tief in mir wartet das Leben. Wartet darauf, dass da einer kommt, mich berührt, erkennt, was in mir steckt. Ich warte darauf, dass mich einer heraus ruft. Und eines Tages wird er kommen… ich weiß es.

Bis dahin verstecke ich mich. Ich warte. Und um mich herum wächst meine Dornenhecke und schützt mich. Für die anderen bin ich tot. Doch ich schlafe nur, für sehr lange Zeit.

Als er kam, fasste er mich an der Hand. Er schaute mich an – und sah mich. Er sah die junge Frau, die werden will. Und er sagte „Mädchen“ und nicht „Tochter des…“ Er meint mich.

Und er sagte: „Steh auf!“ – geh deinen Weg, als Mensch, als Frau.

Angesehen, berührt, erkannt, geliebt, erlöst, befreit.  Da haben die Dornen Rosen getragen.

Und ich stand auf und machte mich auf dem Weg – und konnte leben, endlich leben. »

… Ob es an der Bibelgeschichte, ob es an dem Märchen vom Dornröschen, ob es an der Kombination beider Geschichten lab oder ob es an der menschlichen Begleitung war oder an Jesus Präsenz und ihrem Glauben daran, ihrem Vertrauen an ihren eigenen Kräften  – diese junge Frau hat ihre Befreiung und ihren eigenen Weg gefunden!

Lina Paula Belo

Pastoralreferentin im Sankt Rochus Hopital in Telgte

und in der Ehe- Familien- und Lebensberatung im Bistum Münster

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